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De / Zeichentrick ist was für Kinder
aka: Animation Age Ghetto

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Könnte ja sein, daß es niemandem auffällt, daß Fritz seine Hand im Ausschnitt seiner Freundin hat.

Erwachsene Fans von Zeichentrickfilmen und -serien haben einen ziemlich schweren Stand, müssen ihre Leidenschaft oft im Verborgenen ausleben und tauschen sich nur mit Gleichgesinnten darüber aus. Wenn sie nicht selbst Kinder haben, halten sie ihre animierten Videos und DVDs – ganz zu schweigen von Postern und anderem Merchandise – in einem Schrank versteckt, falls mal uneingeweihter Besuch kommt, oder sie geraten in Panik, weil sie das alles schnell verstecken müssen, hat sich doch gerade ein Arbeitskollege/die neue Flamme/die Verwandtschaft angekündigt. Disney-Sammler-Blu-Rays, Anime-Boxen, ja selbst obskurer Zeichentrick wird nur online unter Pseudonym geordert, und wenn man sich doch mal in den lokalen Elektronikmarkt begibt, weil man den Film sofort haben will und nicht erst in ein paar Tagen, achtet man genau darauf, daß einen keiner sieht, wenn man eine Pixar-DVD aus dem Regal fischt, und behauptet an der Kasse, das ist ein Geschenk für den Neffen (Sohn kann man schwer sagen ohne hinreichend Ringe an den Fingern).

Der Grund? Zeichentrick ist was für Kinder. Mehr noch: Zeichentrick ist nur was für Kinder. Jedenfalls ist das die Einstellung der Allgemeinheit. Ein Phänomen, das auch als Animation Age Ghetto bekannt ist.

In der Anfangszeit der Animation, als kurze Cartoons noch Vorfilme von Kinofilmen waren, war das noch nicht so. Die ersten schwarz-weißen Cartoons waren für ein junges Publikum noch zu durchgeknallt. Dann kam der Farbfilm auf. Realfilme waren nur sehr schwer mittels Technicolor in Farbe umzusetzen, bei Zeichentrick war das einfacher, und so zog man zunächst alle Register dessen, was mit der damaligen Technik möglich war. So mancher Zeichentrickkurzfilm – "Cartoon" war hier einfach nicht mehr angebracht – wurde zu einem wahren Kunstwerk, und auch die abendfüllenden Zeichentrickfilme, die Disney in der Vorkriegs- und Kriegszeit präsentierte, waren durchweg von hoher Qualität.

Allerdings hatte Disney schon einen Fehler begangen: Die Zeichentrickfilme basierten sehr oft auf Geschichten, die entweder nach allgemeiner Auffassung oder tatsächlich eher Kinder als Zielgruppe hatten.

Gleichzeitig gab es ein weiteres Problem: Comics kamen auf und wurden zumindest in Europa zunächst mal vielfach direkt an Kinder vermarktet. Was Comics für Literatur waren, war Zeichentrick für Film, nur ohne den Schundverdacht. Daß gerade im Falle von Disney beides aus einem Hause kam und mitunter sogar dieselben Figuren darin vorkamen, machte die Sache nicht leichter.

In den 50ern ging es dann mit Zeichentrick ziemlich bergab. Farbfilme wurden einfacher zu produzieren, was dem Zeichentrick einen seiner Hauptvorteile nahm, und das Fernsehen entzog dem Kino einen Großteil seiner Bedeutung. Natürlich konnten Cartoons auch im Fernsehen gezeigt werden, aber damit ließ sich nicht mehr so viel Geld machen wie mit Cartoon-Vorfilmen, denn während letztere in etlichen Kinos etliche Male hintereinander in kürzester Zeit gegen Eintritt gezeigt werden konnten, lief eine Episode einer Zeichentrickserie einmal für lau über den Bildschirm und mußte dann warten, bis die ganze Serie wiederholt wurde. Trotzdem fingen diejenigen Studios, die diese Phase überlebten, an, fürs Fernsehen zu produzieren. Allerdings wurde der Rotstift reichlich geschwungen, und der kunstvoll-rasante Zeichentrick der klassischen Cartoons mußten reduzierter Animation weichen. Was dabei herauskam, konnten die Fernsehsender ihrem erwachsenen Publikum natürlich nicht als Vorfilme antun, und so wurde es ins Kinderprogramm abgeschoben.

Die erste Zeit, wohlgemerkt, wurden die Serien mitnichten nur für Kinder gemacht. Die Studios bauten sehr wohl einiges an Humor und Handlungselementen ein, was besonders Erwachsene ansprach, ebenso satirische Seitenhiebe auf Politik, Gesellschaft und Popkultur. Als ihre Erzeugnisse aber nur noch an Kinder vermarktet wurden, fingen sie an, mehr und mehr auch nur noch für Kinder zu produzieren. So begann ein Teufelskreis, der sich auch auf abendfüllende Animation ausbreitete.

In Deutschland war es schon dadurch ziemlich extrem, daß amerikanische Zeichentrickserien im Kinderprogramm eher selten waren. Statt dessen hatten wir in den 70ern literaturbasierte Zeichentrickserien, von denen viele Zuschauer erst als Erwachsene erfuhren, daß sie in Japan produziert wurden, als sie erstmals Anime begegneten. Waldemar Bossels' Die Biene Maja und Selma Lagerlöfs Die Wunderbare Reise Des Kleinen Nils Holgersson Mit Den Wildgaensen waren dabei schon für Kinder geschrieben, Lewis Carrolls Alice Im Wunderland und Johanna Spyris Heidi dagegen nicht unbedingt. Da es ja ohnehin alles nur für Kinder war, die die literarischen Vorlagen nicht kannten, nahm man sich auch die Freiheit, einiges zu ändern und neue Hauptfiguren einzubauen.

In den USA dagegen begann in den 60ern eine Untergrund-Gegenbewegung, die Zeichentrickfilme für Erwachsene hervorbrachte. Ralph Bakshi beispielsweise schockierte die Zuschauer mit seiner Verfilmung von Robert Crumbs Kultcomic Fritz The Cat. Für gewöhnlich war Zeichentrick, der entweder nicht unbedingt oder überhaupt nicht für Kinder war, aber entweder zu gezielt abgefahren (siehe auch Heavy Metal) oder wurde komplett mißverstanden und trotzdem gern als für Kinder betrachtet mit entsprechenden Folgen (siehe Watership Down). Die Simpsons begannen in den USA als Spin-Off der The Tracey Ullman Show und wurden dort als Erwachsenenserie betrachtet. Hierzulande liefen sie im Vorabendprogramm zur selben Sendezeit wie die Sesamstrasse, wobei man fairerweise zugeben muß, daß es nicht gerade viele geeignete Sendeplätze gab zu einer Zeit, als es in Deutschland sowohl nur zwei überregionale und jeweils einen regionalen Fernsehsender als auch einen nur auf wenige Stunden am Tag beschränkten Sendebetrieb mit Sendeschluß vor Mitternacht gab. Erst Jahre nach dem Aufkommen von Privatsendern landeten Die Simpsons mit den jeweils neuesten Episoden auf der Prime Time.

Aber auch wenn selbst in Deutschland mittlerweile Beavis Und Butthead, South Park, Family Guy und dergleichen es ins Fernsehen geschafft haben – South Park sogar mit großem Medieninteresse –, und auch wenn in Deutschland Comics wie Werner oder Kleines Arschloch zu erfolgreichen Zeichentrickfilmen verarbeitet wurden, hat die Allgemeinheit die Einstellung, daß Zeichentrick für Kinder ist, noch nicht überwunden. Disney und Pixar produzieren fleißig familientaugliche Filme mit reichlich Eltern Bonus, der aber geflissentlich ignoriert wird. Bei Dream Works-Filmen wird sich darüber aufgeregt, daß man "solche Sachen" Kindern ja nun wirklich nicht zeigen kann – ungeachtet der Tatsache, daß Dream Works keine wirkliche Familienunterhaltung à la Disney produziert. Solche Reaktionen blieben South Park nur deshalb erspart, weil es im Nachtprogramm debütierte. Auch die Sortierung im Filmhandel spricht Bände: Alles an Zeichentrick wird in der Kinderabteilung zusammengefaßt. Nun gut, die wenigsten Geschäfte bieten Serien wie Neon Genesis Evangelion auf DVD an, aber Prinzessin Mononoke wird (trotz FSK-12-Label) neben Prinzessin Lillifee geparkt. Die allerwenigsten Geschäfte haben überhaupt genügend Ladenfläche, um ein separates Erwachsenen-Zeichentrick- oder auch nur Anime-Regal zu haben.

In den Staaten verliert das Animation Age Ghetto mehr und mehr an Bedeutung, und selbst erwachsenen Fans von tatsächlichen Kinderserien gegenüber schüttelt man weniger den Kopf. Ja, Hasbro zielt mit seiner Fernsehwerbung für My Little Pony: Freundschaft ist Magie mittlerweile auch auf Bronies ab, während Boom! Comics diverse Disney-Trickserien in Comics umsetzte, die ausschließlich für Fans und deren Belange gemacht wurden (und hierzulande nur als Grauimport erhältlich waren). In Japan wiederum war man sich eigentlich immer bewußt, daß Anime auch etwas für Erwachsene sein kann. Deutschland dagegen scheint noch lange nicht so weit zu sein.

Im übrigen trifft diese Trope nicht nur auf Zeichentrick zu, sie läßt sich sehr gut auch auf Comics anwenden. Das erklärt etwa, warum Graphic Novels hier einen so schweren Stand haben und nur von Freaks beachtet werden.

Siehe auch Das soll nicht für Kinder sein?, Kenn Ich Nicht Mag Ich Nicht (diejenigen, die behaupten, Zeichentrick sei für Kinder, sehen selbst keinen Zeichentrick, weil er ja für Kinder ist, usw.), Zeichentrick ist immer Disney.


Beispiele:

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    Anime 

    Cartoons 
  • Die Cartoons aus dem Goldenen Zeitalter des Trickfilms, also bis in Die Fuenfziger, waren entweder nicht primär oder überhaupt nicht für Kinder gemacht. Schon lang käme man nicht mehr damit durch, so etwas zu produzieren und es an Kinder zu vermarkten. In den Neunzigern aber liefen im Disney Club etliche klassische Disney-Cartoons. Allerhöchstens die ganz frühen Schwarzweiß-Cartoons waren ausgenommen — wahrscheinlich weniger, weil die so durchgeknallt und von der Handlung her streckenweise alles andere als kindgerecht waren, sondern eher, weil ihr Animationsstil zu altbacken war.
    In den Achtzigern parkte das öffentlich-rechtliche Fernsehen auch Tom Und Jerry (als Serie neu verpackt mit einem brandneuen Titelsong von Udo Juergens)'' und klassische Warner-Cartoons (als Serien mit Bugs Bunny bzw. Speedy Gonzales als "Hauptfiguren" neu verpackt) im Kinderblock.
    • Zumindest liefen noch durchgeknalltere Cartoons anderer Studios und Macher (etwa Tex Avery) nicht im Nachmittagsblock, sondern z. B. am Donnerstagabend um 21.00 Uhr auf N3 vor einem Spielfilm, also zu einer Zeit, zu der die Zielgruppe des ZDF-Kinderblocks schon im Bett hätte sein müssen.
    • Heutzutage sieht man klassische Cartoons praktisch überhaupt nicht mehr im Fernsehen. Inzwischen traut man sich nicht mehr, so etwas zu Zeiten zu senden, zu denen Kinder vorm Fernseher sitzen könnten, also von früh morgens bis zur Prime Time. Die Prime Time selbst ist als Programmblock zu kostbar für Cartoons. Und fürs Nachtprogramm sind sie zu schade.

    Westliche Zeichentrickfilme 
  • Watership Down ist schon zweimal verfilmt worden. Zum einen gibt es eine stark veränderte, auf Gewaltfreiheit optimierte, relativ neue Serienfassung, die immer mal wieder auf KI.KA läuft. Zum anderen aber gibt es den Trickfilm, der das Buch sehr werkgetreu umsetzt und somit auch sehr drastische Gewaltdarstellungen enthält. Aber es ist ja Zeichentrick, außerdem sind auf dem Cover niedliche Kaninchen drauf, folglich muß es ja für Kinder sein. Sehr viele Eltern sind diesem Irrtum bereits zum Opfer gefallen, haben ihre Kinder vor den Film gesetzt, und daß das definitiv kein Kinderfilm ist, haben sie erst gemerkt, als ihre Kinder von einem Heulkrampf geschüttelt angerannt gekommen sind und nächtelang Alpträume von dem Film hatten.
  • Felidae funktioniert (oder besser "fehlfunktioniert") nach einem ähnlichen Schema. Das Filmplakat zeigt die Hauptfigur, den wenig anthropomorphen Zeichentrickkater Francis. Wer die Romanvorlage oder den Film selbst nicht kennt, und das tun die wenigsten, schließt daraus, der Streifen muß so ähnlich sein wie Aristocats. Allerdings enthält Aristocats nicht dieselben Mengen an Sex, grafischer Gewalt und verrückten Wissenschaftlern wie Felidae.
  • Wenn Der Wind Weht könnte man schon fast für einen Zeichentrickfilm für Kinder halten. Ein niedlich-knuffig-liebenswert gezeichnetes älteres Ehepaar auf dem Cover, ein harmloser Filmtitel, den man gut mit Der Wind In Den Weiden verwechseln kann, und den Atompilz im Hintergrund oder je nach Cover den strategischen Bomber über den beiden sieht man erst auf den zweiten Blick.
    • In Deutschland kommt noch erschwerend hinzu, daß der Film eine FSK-6-Einstufung bekommen hat. Noch auf erheblich ältere Kinder wirkt er sehr verstörend. Wer auch immer den Film eingestuft hat, hat ihn mit Sicherheit nie oder zumindest nie ganz zu Ende gesehen.
  • Mrs Brisby Und Das Geheimnis Von NIMH. Don Bluth hat ein – zugegeben – Kinderbuch genommen, es dann aber Dunkler und erwachsener verfilmt, als er es je bei seinem früheren Arbeitgeber Disney gedurft hätte. Folglich enthält der Film reichlich Alptraum-Treibstoff. Aber man versuche mal, einem Erwachsenen klarzumachen, daß ein Film, in dem eine Zeichentrickmaus die Hauptfigur ist, nicht unbedingt für kleine Kinder geeignet ist.
  • Ein hervorragendes Gegenbeispiel ist Persepolis. Zum einen wurde die Graphic Novel, in der die Autorin Marjane Satrapi die Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend erzählt, nie wirklich für einen Comic für Kinder gehalten, zum anderen läuft auch die Verfilmung nicht unter "Zeichentrick für Kinder". Zugegeben, das kann auch daran liegen, daß beide relativ sparsam und gleichzeitig ernst gezeichnet sind, kaum Farben enthalten, somit für Kinder zu langweilig erscheinen und ein Thema behandeln, das zu begreifen niemand einem Kind zutrauen würde.
  • Gar nicht erst im Ghetto gelandet sind die übrigen Trickfilme von Michael Schaack, also mit Ausnahme von Felidae. Werner ist mittlerweile Mainstream, den kennt fast jeder, von dem weiß jeder, daß er nicht gerade kinderfreundlich ist. Und die, die ihn nicht kennen, für die strahlt er herzlich wenig Appeal für Kinder aus. Derrick kennt sowieso jeder, und den würde man auch nicht gerade Kindern vorsetzen. Erst recht nicht, was auch immer Kleines Arschloch heißt, auch wenn einem Walter Moers nicht als Comiczeichner geläufig sein sollte.

    Westliche Zeichentrickserien 
  • Ein interessanter Fall ist My Little Pony: Freundschaft ist Magie. Lauren Faust hat diese vierte Generation, die sie auf eigene Faust mit herzlich wenig Einmischung von Hasbro von Grund auf neu entwerfen durfte, von Anfang an abgezielt auf Mädchen von fünf bis zwölf (die vorherigen Dauerwerbeserien hatten eine Zielgruppe von vier bis sieben) sowie deren Eltern, und zwar Mütter wie auch Väter. Im Gegensatz zu Dora sollte diese Serie durchaus auch von Erwachsenen gesehen werden können und wurde entsprechend geschrieben und produziert – was mit dazu führte, daß sie überraschend viele männliche Jugendliche und junge Erwachsene anspricht, die sich selbst Bronies nennen. Schon seit ungefähr Mitte der ersten Staffel wird sie mit den Bronies im Blickfeld produziert, und auch The Hub, wo sie läuft, und Hasbro selbst haben die Bronies mittlerweile anerkannt. Auf Viacom und Nickelodeon Deutschland trifft dies aber immer noch nicht zu: Die ersten Folgen sind immer noch wie für dieselbe Vorschul-Zielgruppe wie Dora synchronisiert, und die ganze Serie residiert im Vorschul-Programmblock Nick Jr. auf Programmplätzen, auf denen weder Schüler (und die Hauptzielgruppe Schülerinnen) noch Bronies sie sehen können.


En: Animation Age Ghetto

Alternative Title(s): Animation Age Ghetto

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